Leseprobe aus: Six - Dunkles Erbe

26.02.2018


Eins

Venedig, Italien

Die Dunkelheit legte sich bereits über die engen Gassen, als er endlich Sichtkontakt hatte. Seit drei Tagen war er hier, hielt Stunde um Stunde Ausschau, um sie nicht zu verpassen. Doch sie war nur sehr schwer zu übersehen. Ihr langes, leuchtend violettes Haar besiegte selbst die schwärzeste Nacht. Das lange, weisse Kleid umschmeichelte ihren schlanken Körper, als sie wie versteinert stehenblieb. Er hatte gehofft, sie noch länger mustern zu können, doch er wusste sofort, dass sie ihn entdeckt hatte.

Deshalb trat er aus seinem Versteck heraus. Er strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte. Ein Lächeln, das Frauen normalerweise zum Schmelzen brachte. Aber Coralie Lance war anders. Ein hübsches Lächeln hatte noch nie ausgereicht, um ihr Vertrauen zu gewinnen.

Ihre Finger krallten sich in die schwarze Clutch, die sie in der linken Hand hielt. Er hatte nicht mit einer freudigen Umarmung gerechnet, aber auch nicht mit diesem finsteren Blick, den sie ihm zuwarf. Hätte er Gefühle gehabt, wären diese jetzt sehr wahrscheinlich verletzt.

"Ciao, Cor."

"Verpiss dich, Six."

Spätestens jetzt wären seine Gefühle definitiv verletzt. Er lächelte jedoch weiter und trat auf sie zu, die Hände in den Hosentaschen verstaut. Sie war hübsch. Doch er wusste, dass sie nicht nur gut aussehen konnte. Sie war ein Genie. Hatte auf alles eine Antwort. Für jedes Problem eine Lösung. Und genau deswegen brauchte er sie.

"Begrüsst man so etwa seine Freunde?", gab er mit einem charmanten Ton in der Stimme zurück.

Sie marschierte an ihm vorbei, ihre Absätze klapperten über den Boden. Ihre Schulter drückte sich gegen seine Brust, als sie die schmale Brücke betrat. Er hätte sie ohne Probleme aufhalten können, doch er liess sie passieren.

"Wir sind keine Freunde", zischte sie, warf ihr Haar nach hinten und schaute ihn nicht mehr an. "Wärst du nicht der verdammte Kronprinz der Dunkelalben, hätte ich dich schon längst eigenhändig um die Ecke gebracht."

"Ich will dir ein Angebot machen." Er ignorierte ihre spitze Bemerkung. "Eines, das du nicht ausschlagen kannst."

Erst erweckte sie den Eindruck, nicht auf seine Worte reagieren zu wollen, doch dann blieb sie stehen. Sie drehte sich immer noch nicht um, als sie fragte: "Was soll das für ein Angebot sein?"

Er lächelte zufrieden. Sie war ein Genie, aber sie war auch eine Frau, die ständig pleite war. Er hingegen, er besass mehr Geld, als er jemals ausgeben konnte. Nicht, weil er ein Kronprinz war - Geld spielte in seiner Welt keine Rolle -, sondern, weil er ein Dieb war. Und die Dinge, die er stahl, waren wertvoll. Sehr wertvoll. Man musste nur wissen, an wen man sie verkaufen konnte. Und er wusste das genau.

"Hilf mir bei einem Job. Du weisst, dass ich gut bezahle."

Nun drehte sie ihm doch noch ihr Gesicht zu. Ihre grünblauen Augen fixierten sein Lächeln. Er war sich sicher, dass sie es ihm am liebsten aus dem Gesicht geschnitten hätte. Dennoch behielt er es bei.

"Was willst du stehlen?"

"Ist das wichtig?"

Sie verzog ihre Mundwinkel. "Das bedeutet, dass ich es nicht wissen will."

"So könnte man es auch ausdrücken." Er zuckte mit den Schultern, ehe er sich auf sie zu begab und seine Unterarme auf dem Brückengeländer abstützte. Er blickte aufs trübe Wasser, auf eine Gondel, die an einer Hausmauer befestigt war. "Also, bist du dabei?"

"Wen hast du sonst noch angeheuert?" Er hörte, wie sie ihre Handtasche öffnete und sah dann, wie sie ein Handy herausholte, aufs Display schaute und es dann wieder verschwinden liess. Er tippte darauf, dass sie heute noch etwas vorhatte.

"Ach, du weisst schon, die üblichen Verdächtigen."

Ihr entfuhr ein leiser Seufzer. Dann wandte sie ihm wieder den Rücken zu und stolzierte davon. "Schick mir morgen eine Nachricht", rief sie, bevor sie hinter einer Ecke verschwand.

***

Paris, Frankreich

Er betrat das Hotel. Liess seinen Blick über die Urlauber schweifen und versuchte, ein bekanntes Gesicht in der Menge zu finden. Morgen fand eine Orient-Ausstellung im Louvre statt und er hatte das teuerste Hotel in der Nähe aufgesucht. Auch wenn ihm nicht klar war, was genau sein alter Freund stehlen wollte, wusste er doch, dass er heute hier sein würde. In diesem Hotel. Denn das war seine Vorgehensweise. Schon immer gewesen. Ziemlich durchschaubar, ein Wunder, dass man ihn noch nicht gefasst hatte.

Ein lautes Lachen drang an sein Ohr. Ein ihm bekanntes Lachen. Er folgte dem Geräusch und fand den Mann an der Bar vor. Sein kantiges, braungebranntes Gesicht war einer hübschen Brünetten zugewandt, die in perfektem Französisch etwas sagte, das den Mann wieder zum Lachen brachte.

Unter anderen Umständen hätte er Blade Ramsey seinen Spass gegönnt, aber er war in Eile. Deshalb stellte er sich neben ihm an die Bar und schob ihm einen Zettel zu. Bevor Blade darauf reagieren konnte, hatte er sich bereits in Luft aufgelöst.

Zehn Minuten später lehnte er gegen einen Baum, spielte mit dem Lederarmband um sein Handgelenk und hielt den Blick auf den Hoteleingang gerichtet. Noch fünf weitere Minuten, mehr würde er seinem alten Freund nicht einräumen. Auch wenn er ihn brauchte. Nicht nur, weil er selbst ein begnadeter Dieb war, sondern auch, weil er nichts dagegen hatte, seine Hände in Blut zu tauchen. Und da dieser Job tödlich für alle enden konnte, die sich ihm in den Weg stellten, war ein solcher Mann genau das, was er benötigte.

Blade Ramsey liess ihn noch drei weitere Minuten warten, ehe er aus dem Hotel geschlendert kam, seine blauen Augen hinter dunklen Haarsträhnen versteckt. Six wusste dennoch, dass er ihn gesehen hatte.

"Six." Der Mann verschränkte die Arme und stellte sich breitbeinig vor ihm auf. "Das ist besser wichtig."

"Ist es." Six liess das Armband in Ruhe und hob den Kopf an. "Ich habe einen Job für dich."

"Bin gerade beschäftigt." Wie schon früher neigte Blade dazu, das letzte Wort ein wenig in die Länge zu ziehen. Eine Angewohnheit, die seine Stimme unverkennbar machte.

"Der Louvre steht nächste Woche immer noch."

"Schon möglich. Aber deine Jobs bringen uns immer in Schwierigkeiten."

Six lachte leise. "Na und? Ein wenig Blutvergiessen hat dich doch noch nie gestört."

"Es ist nicht das Blutvergiessen, das mich stört, Six. Du bist es."

"Ich zahle gut."

Blade schaute sich um. Six wusste, dass er stets auf der Hut war. Unnötig, wie Six fand, wenn man bedachte, was Blade war.

"Ich brauche dein Geld nicht."

"Stimmt. Aber schaden kann es auch nicht." Coralie war schon eine harte Nuss gewesen, er hatte noch etliche Nachrichten schreiben müssen, bevor er sie tatsächlich dazu hatte überreden können, ihm zu helfen. Aber Blade Ramsey war noch einmal eine Spur schwerer zu überzeugen. Denn ihn konnte er nicht mit Geld locken. Blade war ein ausgezeichneter Dieb, der ebenfalls wusste, wo er seltene Objekte zu guten Preisen verkaufen konnte. Deshalb musste er zu Plan B greifen.

"Seit wann lässt sich der grosse Blade Ramsey ein Abenteuer entgehen? Bist du etwa weich geworden?"

Ein gefährliches Spiel, das er spielte. Männer... Wesen... wie ihn sollte man nicht verärgern, das konnte sehr, sehr übel enden.

"Treib es nicht zu weit, Sixten Ross." Seine eiskalten blauen Augen wurden schmal.

Six konnte in ihnen ablesen, dass sein alter Freund gegen seine Dämonen ankämpfte. Er hatte keine Angst vor ihm, aber er war vorsichtig. Seine rechte Hand, die in der Jackentasche steckte, schloss sich um ein Messer. Man musste auf alles vorbereitet sein.

"Bist du jetzt dabei oder nicht?", lenkte Six ab, um die Chance, seine Klinge zum Einsatz kommen zu lassen, zu verringern. Er stach nicht gerne auf Freunde ein. Erst recht nicht in der Öffentlichkeit.

"Von mir aus", knurrte Blade mürrisch, während sich sein Gesichtsausdruck wieder entspannte.

Six liess das Messer los und zog seine Hand aus der Jackentasche. "Gut, dann komm mit. Wir müssen noch jemanden abholen."

"Und wen?"

"Die bessere Frage wäre, wo." 


Frühling 2018